Sonnabend
Der Schaffner war bis ins 19. Jahrhundert ein Haushälter oder Verwalter und bezog seine sprachliche Herkunft wie selbstverständlich vom schönen Verb "schaffen". Die etymologisch gebildeten Werbestrategen der Deutschen Bahn sprechen lieber vom "Zugbegleiter", damit man als Kunde nur nicht auf alberne Ideen kommen möge. In der tschechischen Staatsbahn werkelt der uniformierte "Pruvodcí" mit Lochzange und Schnurrbart, hilft beim Verladen von Fahrrädern, beglückt Passagiere ohne Fahrschein mit einem Billet statt der Bundespolizei und ist überhaupt in seiner kauzigen Zweisprachigkeit ein Beleg dafür, daß man in Tschechien noch nichts von Serviceoffensiven gehört haben kann. Dazu rumpelt und faucht der violette Triebwagen mit geöffneten Fenstern (!) um die Serpentinen des Isergebirges, pfeift sein Warnsignal vor den unzähligen Bahnübergängen zwischen Liberec und Tanvald.
Wir geben den Garmins ein paar Minuten, um sich auf die Starthöhe (480 m) einzupegeln und folgen dann den Anweisungen der Schaltkreise zur "Raisova", der vermeintlich einfachen Variante, um von Tanvald in Richtung Polen zu gelangen. 15%, 9 km/h, keine 100 m hinter dem Bahnhof, die Anstrengung pocht an die Schädeldecke...wer plant nur so einen Scheiß...?! Mir ist hundeelend, Charlie kurbelt auf dem dritten Kettenblatt mit schon fast beleidigender Leichtigkeit, Sippe schnauft glücklich neben mir und ich bin so im tiefroten Bereich wie Quaranta an der nächsten Autobahnbrücke. Nach gut einem Kilometer
wird es flacher, als sich eine vorzüglich ausgebaute Hauptstraße in den Weg legt und mir endlich die Gelegenheit gibt, meine schwindelerregende Sauerstoffschuld zu begleichen. Auf der angenehm schwach befahrenen E65 verlieren wir wieder an Höhe und drücken
die nächsten sieben Kilometer auf der Scheibe im Gegenwind zur polnischen Grenze. Charlie gönnt sich eine Pause in unserem Windschatten, Sippe neben mir wird stiller, vernimmt also deutlich das Rasseln meiner Lungenflügel. 17 km/h bei 5%, was zum Geier...? Ich frage hinterhältig, ob ihm das Tempo nicht doch zu hoch werde, was Sippe mit einem "Mir geht es hervorragend!" verneint und mich weiter zum Scheitelpunkt nach Jakuszyce treibt.
Zehn Kilometer Abfahrt verfliegen und wir folgen in Piechowice dem Abzweig nach
Michalowice. Die Straße bricht sich
spektakulär ihren Weg durch die überhängenden Felsformationen und erklettert bei mäßiger Steigung etwa 250 hm. Inzwischen flackert der Gedanke an Aufgabe und Umkehr durch mein überhitztes Oberstübchen. Ich kann meinen Begleitern bei 8% nicht mehr folgen, fahre jetzt seit 35 km nur am Limit. Bis Jagniatków quäle ich mich noch und nehme mir hemmungslos eine halbe Stunde, um mir das Wohn- und Sterbehaus Gerhart Hauptmanns anzusehen. Im Schatten des Riesengebirges döst die Dichterbleibe zwischen barocken Felsen und dem dunklen Grün sehr alter Bäume. Zurück von der "Burg zum Schutz und Trutz" des Nobelpreisträgers besehe ich mir in vager Hoffnung doch noch einmal mein Rad. Und...Donnerwetter! Bei jeder Umdrehung liebkost ein Bremsbelag die Hinterradfelge mit der Heftigkeit eines frisch Verliebten. Der Schnellspanner hatte als Gouvernante versagt, also beende ich die unerfreuliche Liaison mit ein paar Handgriffen und rase voller Hoffnung hinter Charlie in den
nächsten Anstieg.
Und es geht! Ich kann dem flotten Tempo relativ leicht folgen, Glücksgefühle wallen vom Bein ins Hirn. Am Fuße des
Spinderpasses lasse ich Charlie ziehen, knipse ein bißchen in die Gegend und verhelfe meiner schnöden Käseschnitte zu ihrer Bestimmung. In der roten Ecke: Sieben Kilometer mit knapp 10% im Schnitt. In der blauen Ecke: Peso mit seiner Heldenkurbel von maximal 39x27.
Ein Fest! Zunächst mäandert sich das Asphaltband bei 5 - 9% aus Przesieka heraus, versteckt uns dann angenehm kühl im Wald und bringt uns, ohne sich auch nur den Umweg einer einzigen Kurve zu leisten, mächtig steil nach oben. Ab der zweiten Schranke
beginnt der Spaß. Eine fürchterliche Rampe mit 20% läßt meine Trittfrequenz weit unter 50 sinken, mit Sonnenmilch parfümierter Schweiß beißt in die Augen...weiter geht es bei 15%, dann 12%...und nach 800 Metern ist es geschafft. Mir geht es hervorragend.
Für 1,5 km buckelt sich die Piste jetzt bei 7,5% im Schnitt angenehm weiter und erlaubt sogar den Einsatz des 24er Ritzels. Ich wußte ja, was noch bevorstehen würde...und tatsächlich sehe ich bald vor mir eine dunkelgraue Mauer, an die sich einige bunt gekleidete Wanderer geheftet hatten. Zunächst verschärft sich der Gradient auf 17,18 %, frisch und übermütig aus dem Flachstück überhole ich die gelben Anoraks, erhole mich kurzzeitig bei 11% und stehe dann dem Levelendgegner gegenüber. Noch einmal 20% über 100 Meter. 6,5 km/h zeigt der Garmin. Das sind 35 U/min. Ich wanke, biege, reiße, Laktat summt im Ohr, der Wahnsinn stiert auf den wie festgeklebten Reifen, das Tretlager knarzt vor Erschöpfung und dann, ja dann, bin ich doch tatsächlich oben. Oh ha! Am Pöhlberg war ich dem Absteigen zwar deutlich näher, aber mit 39 Zähnen vorne ist das ein kolossaler Amstel Gold. 27% (oder gar 30%) sind das aber im Leben nicht.
Zum Takt der Bee Gees trinken wir einen ebenso überraschend hervorragenden Kaffee und ich gebe auf den nassen Fliesen der Berghütte meine beste Chaplin-Imitation. Nach 59 km und 1500 hm stürzen wir uns hinab nach Špindleruv Mlýn und suchen in dem Straßengewirr des Skiortes den Anstieg zum
Medvedín. Gekonnt finde ich einen steilen, unasphaltieren Wanderweg, den wir selbstverständlich der Straße vorziehen. Wir verlassen den Touristentrubel und fahren ungestört auf dem sehr schönen Anstieg in Richtung Seilbahnstation. Bis zu 12% ist es auch mit meiner Kurbel ein Vergnügen, bleibt die Muße für den Blick auf die gegenüberliegenden Gipfel des Riesengebirgskamms, während der Hang neben der Straße gewaltig in die Tiefe fällt. Auf 1100 Metern beginnt dann eine Schotterstraße, die ich sofort für "problemos fahrbar" erkläre. Keine 100 Meter später befühlt Sippe mißmutig seinen schlappen Reifen. Routiniert wechseln wir die Butylröhre und rollen weiter. Nach wiederum 100 Metern wirft Charlie vor mir jetzt schon deutlich verärgert sein Rad in die Büsche. Wieder ein Durchschlag, und zum Überfluß grinst uns im Reifen ein zehn Millimeter langer Schlitz unverschämt in die ratlosen Gesichter. Mit Geschick wickeln wir die grüne Latexleiche an dieser Stelle um den neuen Schlauch und belüften ihn vorsichtig mit drei Bar, bis sich die Gummiblase aus dem Reifen zu wölben beginnt. Also schieben wir die problemlos zu fahrende Finestre-Abfahrt nach unten und beginnen mit reichlich Verspätung den Anstieg zur
Vrbatova bouda.
Der Berg ist von Radfahrern ebenso stark frequentiert wie der Fahrradweg um den Cospudener See in Leipzig. Allerdings bei knapp 8% im Schnitt. Tschechen! Wir bringen unser mißgünstiges Karma mit in den Berg - einer entgegenkommenden Mountainbikerin platzt der Schlauch, als sie uns gerade passieren wollte. Später in der Abfahrt sehen wir ein weiteres Grüppchen, das sich über die Eingeweide eines Laufrades beugt. Aber traumhaft ist es hier oben. Nicht zu steil mit betörenden Ausblicken bei spärlicher Vegetation. Wir schicken Charlie wieder nach unten und kraxeln zu Fuß zum Denkmal für die beiden Skifahrer Bohumila Hance und Václava Vrbaty. Was für eine Aussicht! Die kahlen Häupter von Szrenica, Wielki Szyszak und Labski szczyt umschließen das beeindruckende Panorama von Rübezahls Reich.
Erst holprig, dann auf beneidenswert glattem Asphalt rasen wir bergab nach Skelne Hute, wo Charlie bereits den nächsten Schotterweg im Auge hat und sich gar nicht erst zu wundern braucht, als ich selbstverständlich diesen Weg einschlage. Nach 100 Metern sind wir dann auf einem gut asphaltierten Forstweg zum
Dvoracky. Was für ein langweilig-häßlicher Anstieg. Zu schwer, um ihn mal eben so entspannt fahren zu können, vollständig im dichten Laub versteckt und mit der Ansage von Mapy.cz, sich ab dem Sattel in einen gemeinen Waldweg zu verwandeln. So langsam, wie es die Übersetzungen zulassen (Charlie: 30x27, Sippe: 34x28, Peso: 39x27) biegen wir auf gut 1000 m um die Ecke...und..."Peso!"..."Verdammt!"..."Nicht dein Ernst!"...haben
das hier vor uns. Mir ist sofort klar, daß ich diesen monströsen Stich zur Berghütte auch auf befestigter Straße vermutlich nicht (mehr) schaffen würde und steige lieber ab, bevor das die Steigung für mich unsanft erledigen würde. Charlie versucht es noch etwas, muß aber ohne Traktion und hoffnungslos "undergeared" ebenfalls die Segel streichen. Nun denke aber niemand, daß es zu Fuß einfacher wäre! Bei 30% muß ich die Radschuhe quer zum Hang setzen, jammert meine ohnehin gereizte Achillessehne um Erbarmen und verwandeln sich die Waden beim Anblick dieser Berg gewordenen Medusa in Stein. Das Pesometer ist geplatzt.
Ungläubig fragen wir uns, wo nur diese Touristikradler herkommen, die ebenfalls hier auf den Abzug des Gewitters warten. Gleich neben der Hütte fällt die Straße scheinbar senkrecht ins Tal. Man muß sich bis auf fünf Metern der Kante nähern, um den
Straßenverlauf überhaupt ausmachen zu können. Mit böser Vorahnung begeben wir uns in die Abfahrt. Ich halte fast von Beginn an beide Bremshebel bis an den Lenker gezogen...es gelingt mir nicht, mein Rad zum Stehen zu bringen. Über 30% Gefälle sind es ganz oben, später immer wieder 20% und mehr. Und schließlich sind es nur noch Stoßgebete, die einen Sturz verhindern können, denn ich springe verkrampft in den Lenker gekrallt über abartig schlechte Geröllpassagen. Wenn mir hier der Schlauch auf der glühend heißen Felge platzen oder gar der Gabelschaft brechen würde...ich kann meine Finger nicht mehr von der Bremse lösen, selbst, wenn ich es wollte - STI und Hand sind eins, ohne daß ich sagen könnte, wo der Mensch aufhört und die Maschine beginnt. Irgendwie geht es. Der Große Ulle meint es gut zu mir und ruiniert mir nur die Felge.
Charlie trägt seinen Gaul aufopfernd hinab, nachdem erneut ein zerstörter Schlauch den Weg in die Rückentaschen gefunden hat. In Rokytnice versammeln wir unsere Knochen und begeben uns in die
Schlußsteigung. Wieder 19%. Aber schön, der zweite Anstieg heute (neben der Vrbatova bouda), der mir wirklich gefällt und nicht einfach nur schwer ist. In Tanvald plündern wir unter den entsetzten Augen der Angestellten einen Supermarkt, verzichten auf die Fahrt nach Liberec und warten auf den violetten Triebwagen mit dem kauzigen Schnurrbart.
120 km / 3400 hm